Kann ein Gehörloser Musik machen? Ja – und sogar davon leben


Obwohl Jonas Straumann fast nichts hört, fasziniert ihn Musik schon seit seiner Kindheit. Lange hat er dem Vorurteil geglaubt: Gehörlose können keine Musiker sein. Nicht zuletzt sich selbst hat er nun das Gegenteil bewiesen.


Wenn Jonas Straumann zu spielen beginnt, bleiben die Leute stehen. Mal kraftvoll, mal streichelnd wirbeln seine Hände und Finger über das Handpan, welches auf seinem Schoss liegt. Grosse Bewegungen mit den Armen, einen kurzen kecken Blick ins Publikum, und Straumann schafft es, die Passanten und Passantinnen mit seiner Strassenmusik in den Bann zu ziehen. So auch an diesem Samstag im Herbst vor zwei Jahren:

Was beim Zuhören und -sehen kaum auffällt: Jonas Straumann ist fast gehörlos. Fünf Prozent Hörvermögen ist ihm auf dem rechten Ohr geblieben, sein linkes ist ganz taub. Trägt er kein Hörgerät, ist seine Welt fast komplett still. (Hier kannst du dir anhören, wie sich ein schwerer Gehörverlust ungefähr auswirkt). Trotzdem macht er Musik. «Für mich war die Musik die grösste Herausforderung, der ich mir stellen kann», sagt er.

Eine Türe in die Welt der Hörenden, die ihm am weitesten entfernt schien. Doch wie macht er überhaupt Musik? Spielt er auf der Strasse, stellt er vor sich ein Schild auf: «Ich fühle, was du hörst.» Damit meine er nicht, dass er die Schallwellen spüre, sondern vielmehr dass die Musik aus seiner Intuition komme, «direkt aus meinem Herzen». Wie er seine Musik selbst wahrnimmt erzählt er im Video.

Video: Lia Pescatore

Sein Hörgerät ist von einem Spezialisten auf sein Instrument abgestimmt, damit er möglichst alle Frequenzen hört. Doch Gewichten kann das Hörgerät nicht: Es ist ein kleines Mikrofon, dass alle Geräusche, die in den Gehörgang eindringen, verstärkt, bei Straumann um ganze 60 Dezibel. Das ist laut, zu laut für die verbleibenden gesunden Härchen in seinem Ohr.

«In meinem Ohr läuft konstant ein Presslufthammer», sagt Straumann. Schon eine Lautstärke von 85 Dezibel gilt auf die Länge als gehörschädigend. Was Jonas Straumann tagtäglich ausgesetzt ist, ist ein Vielfaches davon. Dass sein Gehörvermögen weiter abnimmt, nimmt er in Kauf. Einen Teil seines Restgehörs hat er in den letzten Jahren verloren.

Musik fasziniert den 28-Jährigen schon seit seiner Kindheit – trotz angeborener Behinderung. Angefangen hat es mit der Schallplatte der Schlümpfe, die er am liebsten mit dem Rücken an den Boxen auf voller Lautstärke hörte.

In der Schule probierte er sich am Schlagzeug und den Steeldrums aus, versuchte sich an der Gitarre. Doch richtig Klick machte es bei ihm nie. «Das richtige Instrument hat gefehlt.»

Beruflich wählte er nach der verkürzten kaufmännischen Lehre doch seinen ganz eigenen Weg. Er baute ein Magazin für Gehörlose auf, brachte sich selbst sich das Programmieren von Websiten, Fotografie und Videografie bei – alles Fähigkeiten, die ihm heute weiterhelfen.

Nur in einem Punkt liess er sich durch die kritischen Stimmen lange einschüchtern: Ein Gehörloser, der Musik macht? Nein, das geht nicht. «Mein Umfeld hat mir klar zu verstehen gegeben, dass die Musik mich nicht weiterbringen wird.» Und er hat ihnen geglaubt.

Bis er sich das Instrument leisten konnte, vergingen Jahre

2013 entdeckte er zum ersten Mal das Handpan auf Youtube. Auf den ersten Blick war für ihn klar, das ist sein Instrument. «Sofort angesprochen hat mich, dass das Instrument mit den Händen, und zwar mit den ganzen und nicht nur mit den Fingern gespielt wird.»

Das Handpan vereint für ihn zwei Welten, die der Perkussion und die der Melodie. Anders als bei einem Klavier oder der Gitarre sind die Töne begrenzt: Jedes Handpan hat eine, teilweise sehr individuelle, Tonleiter, die aus bis zu acht Tönen besteht. «Die Limitation der Töne und Tonleitern fördert und fordert meine Kreativität besonders.»

Diese beiden Handpans in D-Dur und D-Moll sind heute Straumanns Favoriten.

Handpan mit einer D-Dur-Tonleiter
Handpan mit einer D-Moll-Tonleiter

Bis er sich sein erstes Handpan leisten konnte, vergingen ganze fünf Jahre. «Dann drehte sich meine Welt um 180 Grad.»

Vorerst spielte Straumann für sich Zuhause. Doch bald musste eine neue Herausforderung her. Nach einem Jahr zog es ihn vors Publikum, auf die Strasse. «Ich wollte wissen, was da abgeht», sagt er. Die Strassenmusik hat sich zum Labor für neue Songs und zur stabilen Einkommensquelle entwickelt. Bis vor Kurzem war er fast jede Woche in seiner Heimatstadt Winterthur anzutreffen – doch jetzt macht er Pause.

Die ständigen Konflikt mit den Anwohnern, die auftreten, obwohl er sich klar an die Regeln halte, hätten ihm vorerst die Lust genommen, in den Winterthurer Gassen zu spielen. Die Strassenmusik ganz aufzugeben ist jedoch keine Option, auch aus finanzieller Sicht nicht: Nach wie vor ist sie eine wichtige Einkommensquelle für den gebürtigen Solothurner. Seit einem Jahr kann er einzig von seiner Musik leben, dank der verschiedenen Standbeine, die er sich aufgebaut hat. Er vermietet unter anderem Handpans an Neugierige, hat einen Online-Handpan-Kurs entwickelt und gibt Workshops.

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Zudem hat er im vergangenen Jahr über hundert Konzerte gespielt: Statt auf der Strasse fand er sein Publikum während der Coronapandemie im Altersheim.

Konzerte will er auch in Zukunft geben, jedoch will er mit seiner Musik auf die richtige Bühne. Für den jetzigen Festivalsommer hat es zwar noch nicht gereicht, doch nächstes Jahr will er dabei sein. Dafür zieht er sich vorerst in sein kleines Studio zurück. Songs schreiben und aufnehmen ist angesagt. «Für einen Auftritt im Altersheim und für die Strasse haben meine fünf Songs allemal gereicht, auf die grosse Bühne kann ich damit aber nicht.» Und dort will er hin.

Erstmals erschienen bei blue News.

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