Der Schweizer Regisseur Marc Wilkins hätte überall leben können. Er hat Kiew gewählt. Die Geschichte einer ungewöhnlichen Flucht


Erst mit 40 fand Marc Wilkins einen Ort zum Bleiben: in Kiew. Doch dann kam der Krieg.

Erschienen in der NZZ am 21. Februar 2023.

Andere Familien vererben Kuchenrezepte, die von Marc Wilkins ein Lebenskonzept: Heimat ist frei wählbar. Sein Urgrossvater zog von Deutschland in die Schweiz, um seine Söhne vor einem Einzug an die Front zu bewahren. Wilkins Eltern flohen vor dem konservativen Leben aus der Schweiz und landeten in einer Aussteigerkommune auf Kreta – im Schlepptau: Marc Wilkins und sein Bruder.

Und nun ist der Schweizer Regisseur selbst zum Flüchtling geworden. Als er glaubte, mit über vierzig Jahren in der ukrainischen Hauptstadt Kiew endlich einen Ort zum Bleiben gefunden zu haben, kam der Krieg. Überstürzt verliess Wilkins die Stadt.

Ein Leben auf Achse

Wir treffen Marc Wilkins an einem frostig kalten Nachmittag Ende Januar in Zürich. Erst seit kurzem ist Wilkins hier, in «der einzigen Stadt in der Schweiz», wie er mit einem spitzbübischen Lächeln sagt. Die Begrüssung ist warm, Wilkins gut gelaunt. Wegen der Kampfpanzer, die der deutsche Bundeskanzler der Ukraine an jenem Tag in Aussicht stellt. Und weil seine Tochter die Nacht durchgeschlafen hat.

Wilkins hat auf den Helvetiaplatz geladen. Der Ort vereine alles, was er an Zürich schätze.

Die soziale Institution Volkshaus: «Mega toll», kommentiert Wilkins. Arthouse-Kino und Filmstudio in der Nähe: «Symbolisch für meine Anfänge.» Der Platz selbst, für Wilkins exemplarisch für den rebellischen Geist der Stadt. An diesem Nachmittag repräsentiert durch eine Gruppe Jugendlicher, die sich auf dem Platz für eine winterliche Tanzrunde zu koreanischer Musik versammelt haben. Auch das findet Wilkins «super cool» und sucht das Gespräch mit der Truppe.

Wilkins Sprache ist bunt gefärbt von seinem Leben auf Achse. In einem Berner Spital vor 46 Jahren geboren, hat er nur wenig Zeit in der Schweiz verbracht. Nach der Trennung der Eltern lebte er in Freiburg, München, Berlin, auf Neuseeland oder in New York. «Meine Eltern haben mir gezeigt, dass ich mir überall ein Zuhause schaffen kann.»

In Zürich passt er mit seinem breit, aber kurz geschnittenen Mantel, den leicht erhöhten Schuhen und der abgerundeten Brille mit transparentem Rahmen perfekt hinein.

Doch Wilkins wollte nie in ein bereits gut geöltes System passen.

Die Suche nach Sinnhaftigkeit

Schon der achtjährige Marc träumte davon, auf einer namenlosen Insel eine Gemeinschaft nach seiner eigenen Vorstellung aufzubauen, von einem friedvollen und gerechten Leben miteinander und mit der Natur. Solch eine Insel hat er zwar nie gefunden. Doch die Vision und die Faszination für das Fremde sind geblieben.

In der Fremde suchte sich Wilkins einen Ort, an dem er sich nützlich machen konnte. In Städten wie Zürich oder New York schien ihm das kaum möglich. Eine Kunstgalerie aufbauen? Haben schon Tausende gemacht. Alles sei vorgespurt, «alles hat seine Ordnung», sagt er und zeigt auf die perfekt mit Randsteinen umsäumten Bäume an der Stauffacherstrasse, an der wir entlangschlendern.

Erst in Kiew fand Wilkins den Freiraum, den er sich schon als Achtjähriger erträumte.

2006 reiste er zum ersten Mal wegen eines Werbedrehs nach Kiew. Hier konnte er sich künstlerisch austoben, und dies zu günstigen Preisen. Kiew wurde zu seinem bevorzugten Produktionsort, die Menschen, mit denen er hier arbeitete, wurden zu seinen Freunden.

Hier kann man noch etwas bewegen, so sein Gefühl. 2016 zog er ganz nach Kiew.

Mit den Jahren investierte er mehr Zeit und Geld in die Stadt. In vernachlässigte Häuser, vereinsamte Gassen, die scheinbar nur darauf warteten, mit Visionen und Leben gefüllt zu werden.

2018 verwandelte er ein Ladengeschäft in eine Galerie für zeitgenössische Kunst, 2020 einen Turm aus der Sowjetzeit zu einer Herberge für verschiedene Restaurants, Cafés und Läden.

Sein Herz steckt in den Projekten, sein Erspartes in den dazugehörigen Immobilien, für die er sogar seine Lebensversicherung auflöste.

Er fand ein Zuhause – und die Liebe. Ein Ort zum Bleiben, den es auch zu verteidigen gelte, sagt er.

Er änderte auch sein Denken. Als Schweizer habe er die Armee als überflüssig und Waffenexporte als beschämend empfunden. Seit der Annexion der Krim denkt er anders: Die Ukraine hat aus dem ehemaligen Rudolf-Steiner-Schüler längst einen Unterstützer der Armee gemacht.

2014 drehte er einen Werbefilm für die ukrainische Armee, bezahlt aus der eigenen Tasche. Der Slogan: «We are not born for war. But we are here to fight for our freedom.» Dass er eines Tages im Krieg aufwachen würde, war für ihn damals noch unvorstellbar.

Das Leben zu dritt

Am 24. Februar 2022 waren es die einschlagenden Bomben, die ihn aufweckten. Er und seine Ehefrau Olga flüchteten mit ihrem Auto, dem Hund und einem Kanister Benzin im Kofferraum zu Wilkins’ Bruder nach Berlin. Lange hielten sie es nicht aus. Nach wenigen Wochen kehrten sie nach Kiew zurück. Um zu bleiben. In Gedanken waren sie schon zu dritt. Olga Wilkins war schwanger. Ihr grosser Wunsch: Ihre Tochter sollte in Kiew auf die Welt kommen.

Ein Alltag kehrte ein, mit Arztbesuchen bei Luftalarm, schwirrenden Drohnen über dem Ferienhaus, besorgten Nachrichten von Freunden, weil sie von einer schwangeren Frau unter den Toten lasen.

Olga war bereits im achten Monat schwanger, als sie sich entschieden, Kiew zu verlassen – für ihre ungeborene Tochter. «Ein Leben hinter verbarrikadierten Fenstern und mit ständig dröhnendem Luftalarm ist vielleicht für uns erträglich, aber nicht geeignet für ein Baby.»

Das neue Ziel: Zürich.

Ein Zuhause auf Zeit

Am 13. Dezember kam Mathilda im Triemli-Spital auf die Welt, wenige Tage nach der Ankunft in Zürich. Statt in ihrer Türmchenwohnung in der Kiewer Altstadt verbrachte die Familie die ersten Wochen in einer Übergangswohnung in Wiedikon.

Es sei alles zusammengewürfelt, warnt Wilkins, bevor er den Schlüssel in dem Türschloss zu seinem temporären Zuhause umdreht. Was sich dahinter eröffnet, wirkt vielmehr wohl durchdacht. Die Möbel farblich aufeinander abgestimmt, darauf Pflanzen, die sich nach der Sonne recken, und darunter Teppiche, die den Schritt dämpfen. Dass hier eine Familie mit einem Neugeborenen erst vor einem Monat einzog, erkennt man in keiner Ecke.

Wir setzen uns an den Tisch, wie so vieles hier ein Fund aus dem Keller der Eltern. Ein Erbstück der Grossmutter aus Preussen, sagt Wilkins sichtlich stolz. Seine Wurzeln sind ihm wichtig. Insbesondere die Stadt, die in seinem roten Pass als Heimatort vermerkt ist: Langenthal. Dort lebt seine Grossmutter, dorthin kehrt er immer wieder zurück. Zum Essen serviert seine Frau Olga sogleich «Chnöiblätz», wie die Berner zu den Fasnachtschüechli sagen.

Wilkins Umgang mit dem Thema Heimat hat auch sie geprägt. Olga musste sich in der Ukraine dafür rechtfertigen, das Leben in Kiew dem in Berlin, wo sie gearbeitet hatte, vorzuziehen, Marc in der Schweiz für seinen Entscheid, die Sicherheit der Schweiz hinter sich zu lassen. «Marc hat mich in meiner Entscheidung bestätigt. Er hätte überall leben können, und hat Kiew gewählt», erzählt Olga Wilkins auf Englisch, während Mathilda friedlich in ihrem Arm schläft.

Nur wenige Stücke in der minimalistisch eingerichteten Wohnung zeugen von den Verbindungen zu Kiew. Das Hochzeitsbild im Esszimmer, Gemälde einer ukrainischen Künstlerin, die sich über die ganze Wohnung verteilen, ein besticktes Tuch, das das Bettchen von Mathilda zieren soll. In Gedanken haben die Wilkins Kiew nie ganz verlassen. Die Wohnung ist bis Ende März befristet, das ist beiden recht.

Bilder der Zuversicht

Als Flüchtlinge sehen sie sich nicht. Wilkins sagt: «Flüchtlinge sind Menschen, die alles verloren haben.» Sie dagegen hatten eine Wahl gehabt, wohin sie gehen wollen. Und die Gewissheit, dass sie zurückkehren können.

Bei der ersten Flucht hat diese Zuversicht noch gefehlt. Damals glaubten sie, Kiew für immer verlassen zu müssen.

Doch jetzt sehen sie beim Gedanken an ihr Zuhause keine Bilder der Zerstörung, sondern die Bauarbeiter, die den Estrich in ihrer Türmchenwohnung in ein Kinderzimmer verwandeln. Sie schlendern bereits wieder über den Gemüsemarkt, auf dem sie geheiratet haben. Und sie schmieden Pläne für einen Spielplatz in ihrem Quartier. «Den Kontakt zu der lokalen Gemeinderätin haben wir schon», sagt Wilkins und lächelt verschmitzt.

Mathilda soll ukrainisch-schweizerisch aufwachsen. Insbesondere durch Essen wollen sie eine Beziehung zur Schweiz schaffen: «Pastetli, Rösti und die direkte Demokratie» wollen sie Mathilda mitgeben, sagt Olga und lacht. Während Olga bereits gut Schweizerdeutsch versteht, ist Wilkins Ukrainisch noch ausbaufähig. Das stört ihn. «Ich habe mir fest vorgenommen, zusammen mit meiner Tochter die Sprache zu lernen.»

Auch wegen der fehlenden Sprachkenntnisse fühlt er sich in Kiew auch nach sechs Jahren noch als Aussenseiter. «Ganz ankommen werde ich wohl nie», dafür liebe er das Fremdsein zu sehr. Davon zeugt auch sein nächstes Projekt. Eine sechsteilige schweizerisch-ukrainische TV-Serie ist bereits in der Entstehung. Ihr Titel: «Fremd».

Erschienen in der NZZ am 21. Februar 2023.

,

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert