Die unendliche Baustelle auf dem Grat zum Fronalpstock


Die Schweiz und der Instagram-Tourismus: An schönen Tagen bilden sich auf dem Grat oberhalb vom Stoos Menschenketten. Für die Sicherheit auf dem Weg sorgt ein Verein von Senioren. Doch wie lange noch? Eine Gratwanderung.

Erschienen in der NZZ am 19. August 2023.

Auf dem Klingenstock, 1935 Meter über Meer, eingeklemmt zwischen den Kantonen Uri und Schwyz, starrt Sepp Betschart ins Graue. Wo Panoramatafeln Bergketten versprechen, liegt dicker Nebel.

Der Klingenstock ist sein Startpunkt: Betschart, 80-jährig, will auf den Gratwanderweg, so wie all die Wanderer, die die Sesselbahn vom Stoos kommend auf der Kuppe absetzt. Sie kommen zur Erholung, Betschart für die Arbeit.

In jahrelanger Fronarbeit hat er mit anderen Senioren den Weg über den Grat vom Klingen- zum Fronalpstock angelegt, den an Spitzentagen bis zu 2000 Menschen entlangwandern. Siebzehn Sommer haben sie bereits in den Ausbau investiert. Doch geht es nach Betschart, ist die Arbeit noch lange nicht abgeschlossen.

Er hat sich eine unendliche Baustelle geschaffen.

Der Ausbau begann pünktlich zu Betscharts Frühpension

Während die Touristen über den Weg hasten, um einen Blick durch ein Guckloch in der Nebeldecke zu erhaschen, konzentriert sich Betschart auf den Quadratmeter Kies vor seinen Füssen. Er sucht nach Stolperfallen, abgetrampelten Stufen, einem Stück Fels, das herausragt.

Vergeblich, scheint es. Der Weg zu Betscharts Füssen ist präpariert und zurechtgestutzt wie ein englischer Rasen.

Stück für Stück haben Betschart und seine Mitstreiter, alle pensionierte Handwerker aus der Region, den Weg in den Grat gegraben, ihn mit Kies überzogen und mit Holzplanken flankiert. Die Felsen sind säuberlich getrimmt und die schroffen Abgänge mit über tausend Stufen besänftigt. Die «Süddeutsche Zeitung» hat den Anblick von oben deswegen schon mit jenem auf die Chinesische Mauer verglichen. Mit Ästhetik hatte der Entscheid für Treppenstufen wenig zu tun. Stufen anzulegen, sei am beständigsten und am sichersten, sagt Betschart.

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Der Ausbau begann vor siebzehn Jahren – pünktlich zu Betscharts Frühpensionierung. Zum Jubiläum der Schwyzer Wanderwege sollte der anspruchsvolle Trampelpfad auf dem Grat in einen Weg für Familien und Senioren verwandelt werden. Ein Jahr lang hätten alle mitgeholfen, Feriengäste, Flüchtlinge, die Senioren, mit Baggern sei man aufgefahren. «Und dann liess man den Weg liegen, wie ein Haus im Rohbau», sagt Betschart.

Die Menschen kamen trotzdem, denn 2007 eröffnete neben der Fronalpstockbahn die Klingenstockbahn – damit waren beide Enden des Grats einfach erreichbar. «Mit solchen Menschenmassen hätten wir nie gerechnet», sagt Betschart. 2013 gründete eine Gruppe Senioren den Verein Gratwanderweg Stoos, um die Arbeiten schneller voranzutreiben. Betschart ist Präsident.

Im Tal nennen sie den Weg Autobahn

Heute ist der Weg 1 Meter 20 breit, und an schönen Tagen bilden sich Menschenketten auf dem Grat. Die Wanderer kommen für eine Aussicht, so schön, dass man sie sich auf die Netzhaut tätowieren lassen möchte, wie es die Moderatorin Gülsha Adilji jüngst ausdrückte.

Instagram, Tiktok und Facebook haben das Panorama weit über Schwyz, weit über die Schweiz hinaus in die Welt getragen. In Videos schwärmen Influencer auf Englisch vom gut ausgebauten Weg. Betschart wird für Tourismuskampagnen eingespannt.

«Ich habe den schönsten Arbeitsplatz der Welt»: Sepp Betschart wirbt für Schweiz Tourismus für den Gratwanderweg. (Quelle: Youtube / My Switzerland)

Im Tal nennen sie den Weg auch Autobahn – wegen des Staus unter blauem Himmel. Betschart nimmt es mit Humor: «Wir bauen immer noch für Fussgänger.»

Der luxuriöse Ausbaustandard sei nötig. Zu viele Unfälle seien passiert, Menschen auf schlammigen Wegen ausgerutscht oder über ungesicherte Hänge gestürzt. Einmal rollte eine Wirtin aus der Region vor Betscharts Augen eine Flanke herunter. Er, damals 65 Jahre alt, rannte ihr hinterher und konnte sie gerade noch vor einem weiteren Absturz bewahren. «Das könnte ich heute nicht mehr», sagt Betschart, mehr zu sich selbst.

Heute sind die Unfallstellen gesichert – oder verschwunden: Wo der Felsen steil ist, hängen Ketten. Wo Menschen ausglitten, führen Treppenstufen den Hang hinunter. Und im Dorf Stoos stehen «Friendly Hosts» in roten Jacken bereit, um auf das richtige Schuhwerk und die Anforderungen aufmerksam zu machen. Betschart sagt: «Wenn wir für Unfälle haften würden, würden wir diese Arbeit nicht machen.»

Erschienen in der NZZ am 19. August 2023.


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