In Deutschland kommt es an Silvester regelmässig zu gewalttätigen Ausschreitungen. In der Schweiz wären solche Krawalle undenkbar, sagt der Kriminologe Dirk Baier.
Erschienen in der NZZ am 4. Januar 2023.
Geplünderte Ambulanzen. Ausgebrannte Reisebusse. Dutzende Verletzte. In Berlin und auch in anderen Grossstädten kam es in der Silvesternacht zu grossen Ausschreitungen. Wieder einmal. Was neu ist: Die jungen Männer, unter ihnen Deutsche, Afghanen und Syrer, griffen mit Feuerwerk gezielt Polizei- und Feuerwehrleute an. Welche Faktoren diese Gewaltausbrüche begünstigt haben und warum ähnliche Vorfälle in der Schweiz unwahrscheinlich sind, erklärt Dirk Baier vom Institut für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW).
Herr Baier, dass es in Deutschland an Silvester zu Ausschreitungen kam, hat nicht überrascht, die Gewalt gegen Polizisten und Rettungskräfte jedoch schon. Wie steht es in der Schweiz um den Respekt gegenüber der staatlichen Autorität?
In der Schweiz geniessen die Polizei und auch die Rettungskräfte ein grosses Ansehen. Umfragen zeigen, dass etwa 90 Prozent der Bevölkerung der Polizei vertrauen. Zwar klagt die Polizei auch hier, dass der Respekt abnehme, doch der Rückhalt ist grösser als in Deutschland. Dort liegt der Anteil der Personen, die der Polizei vertrauen, unter 80 Prozent. Das bedeutet, doppelt so viele Menschen sind ihr gegenüber negativ eingestellt, unter ihnen auch solche, die geradezu Hass gegenüber der Polizei verspüren. Sie sehen die Polizei als jemanden, mit dem man sich messen darf, den man auch angreifen darf.
Was hat das Vertrauen in Deutschland beschädigt?
In den letzten Jahren haben Protestwellen in den USA auch in Deutschland Diskussionen über Rassismus und übermässige Gewaltanwendung ausgelöst. Dabei wurde über den Verdacht, dass die Polizei diskriminiere, rassistisch und gewalttätig sei, offen debattiert und die Polizei damit ein Stück weit dekonstruiert. Natürlich gibt es Vorfälle in Deutschland, wie wohl auch in der Schweiz. Aus meiner Sicht ist die Debatte aber über das Ziel hinausgeschossen. Man hat die Polizei mit der pauschalen Unterstellung angreifbarer gemacht.
Auch in der Schweiz kommt es zu mehr Straftaten gegen Beamte und Behörden.
Das stimmt, in den letzten sechs Jahren sind die gemeldeten Straftaten in dieser Kategorie um rund ein Viertel gestiegen. Die Zahlen sprechen dafür, dass der Ton rauer wird. Dennoch muss man bedenken, dass die Polizisten diese Zahlen auch selbst in der Hand haben, da sie es sind, die die Vorfälle zur Anzeige bringen. Ich nehme hier eine stärkere Sensibilisierung wahr. Polizisten gehen häufiger gegen den Hass gegen sie mit Anzeigen vor. Darum steigen auch die Zahlen.
Ist dies der einzige Faktor, der gegen das Auftreten solcher Gewaltexzesse spricht?
Nein, viel entscheidender scheint mir der Grossstadtfaktor. Die Krawalle der letzten Jahre fanden in Deutschland einzig in grösseren Städten statt mit mindestens einer halben Million Einwohnern. Erst mit dieser Grösse ergibt sich die nötige kritische Masse von jungen Männern – Verlierern –, aus der dann aus Gruppen heraus Gewalt ausbricht. Solche Taten werden immer aus der Gruppe verübt, nie von Einzeltätern. Die grossen Städte fehlen in der Schweiz. Darum wären Krawalle in einem solchen Ausmass undenkbar.
Aber es kann ja nicht nur die Einwohnerzahl entscheidend sein.
Vergleicht man Zürich mit Berlin, zeigen sich weitere Unterschiede. Zürich ist eine reiche Stadt mit wenig ausgegrenzten, desintegrierten Menschen. In Berlin gibt es neben grossem Reichtum und hochgebildeten Menschen auch Stadtteile, in denen sich die Armut über Generationen verdichtet hat. Das führt zu problematischen Ballungen. Dieser grosse Graben ist auch für Deutschland einmalig.
Vorfälle an Silvester gab es in den letzten Jahren auch in anderen Städten. Was hat es mit diesem Datum auf sich?

Junge Menschen nehmen Silvester als Tag wahr, an dem Ausrasten durchaus erlaubt ist. Sie ziehen los, um als Gruppe Spass zu haben, gemeinsam Spannendes zu erleben, auch Gewalt zu verüben. In Deutschland hat sich regelrecht eine Tradition herausgebildet um den Jahreswechsel. In der Schweiz hat es früher am 1. Mai ähnliche Dynamiken gegeben, doch in den letzten Jahren ist es ruhiger geworden.
Warum?
Ich habe keine eindeutige Erklärung dafür. Ich habe den Eindruck, dass man in der Schweiz versucht, problematische Entwicklungen bereits im Keim zu ersticken, bevor grössere Probleme daraus erwachsen. Zum Beispiel in Zürich: Nachdem es rund um den Zürichsee zu mehreren Ausschreitungen unter Jugendlichen gekommen war, haben Polizei und Sozialarbeit zusammen sofort gegengesteuert. Man versucht schneller, näher an die Problemquelle zu kommen.
In Berlin hat man somit die Probleme ausufern lassen?
Das stimmt. Was wir heute sehen, ist zum Teil Ergebnis einer verfehlten Integrationspolitik von vor fast vierzig Jahren. Gut zeigt dies das Beispiel der Mhallamiye-Kurden. Sie wanderten in den 1980er Jahren aus Libanon als relativ grosse Gruppe nach Berlin ein. Dort durften sie nicht arbeiten, sie wurden stillgestellt. Die Konsequenz: Die Gruppe ist dem deutschen Staat gegenüber sehr feindlich eingestellt, weil ihr die Chance verwehrt wurde, ein Teil der Gesellschaft zu werden. Stattdessen haben diese Kurden eine Schattenwirtschaft aufgebaut und grosse familiäre Netzwerke gebildet. Darum sind sie auch in den Kriminalstatistiken übervertreten. Es ist ein schlechter Zug, Migranten so an den Rand zu drücken.
Die Schweiz hat es besser gemacht?
Die Schweiz war nie mit Gruppierungen wie jener der libanesischen Kurden konfrontiert. Die Hälfte der Migranten hier kommt aus Deutschland, Frankreich, Italien oder Portugal. Das sind Gruppen, die arbeitsmässig gut integriert sind und zu denen es kulturell keine erheblichen Distanzen gibt. In Deutschland hingegen stammt ein Viertel der Ausländer aus Syrien, der Türkei und Afghanistan, die eine andere Einstellung zur Bildung mitbringen, allenfalls eine andere Erziehung genossen haben. Die Schweiz hat es leichter mit der Integration ihrer Migrantinnen und Migranten.
Was braucht es, um solche Ausschreitungen in der Zukunft zu unterbinden?
Die Vorfälle haben ein solches Ausmass angenommen, dass man kurzfristig einzig mit ausreichender Polizeistärke dagegen vorgehen kann. Zum nächsten Silvester ist es ja zum Glück noch ein Stück hin. Dann muss die Polizei ganz klar ihre Übermacht sichtbar demonstrieren. Langfristig löst sich damit das Problem jedoch nicht, auch nicht mit verschärften Strafen und Böllerverboten. Die Vergangenheit hat es gezeigt: Es braucht eine nachhaltige Sozialpolitik, die insbesondere bei den Familien und Kindern ansetzt, um die Jahre lang gewachsenen Systeme aufzubrechen. Die Hilferufe aus der Community, aus denen diese jungen Männer stammen, zeigen, dass auch sie begriffen haben, dass sich etwas ändern muss.
Erschienen in der NZZ am 4. Januar 2023.