Die Beweise sind gefälscht, die Indizien zumeist haltlos. Und doch kann sich die Theorie, dass Amerika die Nord-Stream-Pipelines sabotiert hat, halten. Eine Aufarbeitung.
Erschienen in der NZZ am 18. November 2022.
Jeffrey Sachs weiss, wie man explosive Aussagen wirkungsstark platziert. Fast beiläufig erwähnt der amerikanische Ökonom in einem TV-Interview mit Bloomberg Anfang Oktober, dass er darauf wetten würde, dass die USA hinter der Sabotage der Nord-Stream-Pipelines steckten. Eingeladen wurde der Ökonom eigentlich für eine Einschätzung der Inflation. Doch diese Aussage konnte der Journalist Tom Keene nicht einfach stehenlassen. «Jeff, Stopp hier. Das ist eine gewagte Behauptung, die du da gerade anbringst.»
Die Aussage des ehemaligen Harvard-Professors hatte Keene offensichtlich überrascht. Die Untersuchungen zur Urheberschaft der Pipeline-Sabotage waren zum Zeitpunkt des Interviews noch nicht angelaufen. Doch die Mehrheit der Experten war sich in ihren Vermutungen bezüglich der Täterschaft einig: Ein russischer Anschlag scheint als Ursache am wahrscheinlichsten. Nicht für Sachs. Er hält einen Angriff durch amerikanische Helikopter für plausibel, obwohl die von ihm in der Sendung präsentierten Beweise schon im Vorfeld von unabhängiger Seite widerlegt worden sind.
Gegen einen Anschlag von russischer Seite spricht, dass Moskau damit eigene Infrastruktur und zugleich ein wichtiges Druckmittel gegenüber dem Westen selbst zerstört haben soll. Eine der Nord-Stream-2-Pipelines blieb jedoch unbeschädigt. Und Russland hat seit dem Ausfall der restlichen Pipelines mehrfach angeboten, Europa über diese unversehrte Röhre mit Gas zu beliefern. Eine Geste des Entgegenkommens oder der Versuch, die Früchte eines kalt kalkulierten Plans zu ernten?
Für Sachs ist Punkt zwei ausgeschlossen. Er wisse, dass er damit dem «Narrativ des Westens» widerspreche. Er sei damit jedoch nicht allein, betonte er in Bloomberg TV. Jeder, mit dem er darüber geredet habe, glaube, dass die USA hinter den Anschlägen steckten.
Wie konnte sich diese Theorie so weit ausbreiten? Die Theorie der amerikanischen Urheberschaft ist so alt wie die Anschläge selbst. Noch bevor sich herauskristallisierte, dass hinter den Lecks wohl ein Sabotageakt steckt, entstand in den sozialen Netzwerken bereits das Narrativ: Die USA waren es.
Zitat von Joe Biden aus der Vergangenheit liefert ersten «Beweis»
Als einer der ersten Beweise musste ein acht Monate altes Video des amerikanischen Präsidenten Joe Biden herhalten. Es stammt aus der Zeit vor dem Kriegsbeginn, vom 7. Februar. Die russische Truppenbewegung Richtung ukrainischer Grenze hatte bereits eingesetzt.
Einigkeit im Westen zu markieren, war darum das Ziel der Medienkonferenz an jenem Tag, die Biden zusammen mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz bestritt. Biden machte klar: Ein Einmarsch Russlands in die Ukraine würde das Aus von Nord Stream 2 bedeuten. Auf die Frage einer Journalistin, wie er das würde bewerkstelligen wollen, fügte er nur an: «Ich verspreche Ihnen, wir werden dazu in der Lage sein.»
Im Februar erregte diese Aussage noch kaum Aufsehen. Doch nachdem die ersten Meldungen über den Druckabfall in den Pipelines die Runde gemacht hatten, wurde das Zitat als vorgezogenes Geständnis herumgereicht. «Biden gibt zu, dass die USA hinter der Sabotage von Nord Stream 1 und 2 stecken», schrieb zum Beispiel die Twitter-Nutzerin Syrian Girl am Morgen des 27. September auf Twitter zu einem Video von Bidens Aussage, das ABC News kurz nach der Medienkonferenz im Februar auf der Plattform geteilt hatte. Hinter Syrian Girl versteckt sich die prorussische Aktivistin Maram Susli, die auch schon behauptete, die Nazis seien eigentlich Zionisten gewesen und Ebola sei eine amerikanische Biowaffe.
Tucker Carlson diente als Katalysator
Der Tweet schlug ein, und damit auch jener von ABC News, den Syrian Girl in ihrem Post retweetete: Innert weniger Tage wurde das Video millionenfach angeklickt, zehntausendfach gelikt und retweetet. Wie eine Recherche des «Spiegels» zeigt, sind unter den Retweets des Videos einige Nachahmer Suslis, die ihren Tweet in anderen Sprachen reproduzierten und damit die Reichweite des angeblichen Geständnisses erhöhten. Obwohl Biden Nord Stream 1 im Video kein einziges Mal erwähnt hatte und seine Drohung sich schon längst bewahrheitet hatte – Scholz setzte Nord Stream 2, indem er den Zertifizierungsprozess stoppte, kurz vor Kriegsbeginn ein temporäres Ende –, erlangte der Tweet grosse Aufmerksamkeit.
Es bleibt jedoch nicht bei diesem einen Baustein. Weitere Zitate von amerikanischen Politikern, die vor dem Krieg vor einem Aus von Nord Stream 2 warnen, wurden ausgegraben. Aber auch Bilder von amerikanischen Flottenverbänden und Flugrouten von Helikoptern, die zeigen sollen, dass sich Streitkräfte der USA zum Zeitpunkt des Anschlags in der Nähe der Pipelines befanden, wurden auf verschiedenen Kanälen geteilt.
Die These wurde zum Spielball, der auf den sozialen Netzwerken herumgereicht wurde. Und zwar nicht nur von anonymen dubiosen Kanälen wie Syrian Girl. In Deutschland nahmen zum Beispiel verschiedene AfD-Politiker und auch der CDU-Politiker Hans-Georg Maassen die These in der Folge auf, in der Schweiz der SVP-Nationalrat Roger Köppel und seine «Weltwoche».
Zum Durchbruch in die Medien brauchte es aber wohl die Sendung von Tucker Carlson. Der Moderator des konservativen TV-Senders Fox News präsentierte in seiner Primetime-Sendung «Tucker Carlson Tonight» die Indizien vor einem Millionenpublikum. Carlson, der auch die russische Desinformation unterstützt, dass die USA Biowaffen-Labore in der Ukraine betrieben, und den Sturm aufs Capitol einem Mob «von geringer Bedeutung» zuschrieb, liess keine Zweifel daran, wie plausibel er eine russische Urheberschaft findet: Putin müsse schon ein «suizidaler Idiot» sein, die eigene Pipeline in die Luft zu sprengen, sagte er.
Auch der Ökonom Jeffrey Sachs hat die Show von Carlson gesehen: Er verlinkte auf seiner Website das Statement des Fox-News-Moderators auf Youtube.
Gesehen und dankend aufgenommen wurde die Sendung auch in Russland. Das russische Staatsfernsehen zeigte das achtminütige Video von Carlson auf verschiedenen Kanälen. Auch diese Woche betonte Putin erneut, dass es sich bei den Anschlägen um einen «Terrorakt» handle und die Nutzniesser klar die USA, Polen und die Ukraine seien.
Und dann kam die Krim-Brücke
Derweil hat in 80 Meter Tiefe die Suche nach Beweisen für die Urheberschaft begonnen. Nach einer ersten Tatortuntersuchung gaben die schwedischen Behörden vor zwei Wochen bekannt, das sich der Verdacht auf eine «massive Sabotage» durch Detonationen erhärtet habe, Dänemark vermutete am Dienstag eine «starke Explosion» hinter den Schäden. Auch Deutschland hat erste Ergebnisse seiner Ermittlungen an Schweden und Dänemark übermittelt, den Inhalt jedoch nicht öffentlich kommentiert.
Die drei Länder wollen bei den Untersuchungen zusammenarbeiten, Russland ist jedoch ausgeschlossen – und zweifelt die Resultate dieser Untersuchungen bereits an, bevor sie überhaupt abschliessend vorliegen.
Moskau werde keine «Pseudoergebnisse» westlicher Untersuchungen anerkennen, solange keine eigenen Experten daran beteiligt seien, liess das Aussenministerium am Donnerstag verlauten. Moskau darf zwar eigene Untersuchungen vornehmen, hat aber laut eigenen Angaben noch keinen Zugang zu den Tatorten erhalten.
Die Ergebnisse der Ermittlungen, ob sie für oder gegen Russland sprechen, werden auch die Theorie um die amerikanische Täterschaft in den Kreisen der Verschwörungstheoretiker kaum erschüttern können.
Die Theorie wird vielmehr munter weitergesponnen: Den Anschlag auf die Krim-Brücke nahm Syrian Girl Maram Susli zum Anlass, das Zitat von Biden gleich nochmals auszuweiten: «Lass uns Nord Stream 2 und die Krim-Brücke zerstören und schauen, wie Russland reagiert.» Hauptsache, die These bleibt: Die USA waren es.
Erschienen in der NZZ am 18. November 2022.