Mindestens 200 000 Franken fehlen einer Gruppe von enthusiastischen Spezialisten, um die «Säntis» aus dem Wasser zu heben.
Erschienen in der NZZ am 26. April 2023.
Vor 100 Jahren war die «Säntis» eine Pionierin unter den Schiffen auf dem Bodensee. Mit ihrer seltenen Drei-Zylinder-Dampfmaschine transportierte sie ab 1892 bis zu 400 Passagiere pro Fahrt. Ab 1920 tuckerte sie als erstes Schiff mit Ölbetrieb über den See. Dann tat sie weitere 13 Jahre ihren Dienst.
Am 2. Mai 1933 wurde die fahruntaugliche «Säntis» in die Tiefen des Bodensees versenkt, samt Motor, Maschine und Seitenradkästen. Wie vorher die «Jura», die «Baden», die «Helvetia». Schiffe zu verschrotten, war dazumal zu teuer.
Seit 90 Jahren liegt das Wrack der «Säntis» am Grund des Bodensees. 48 Meter lang, 11 Meter breit, 124 Tonnen schwer. Nun soll es geborgen werden.
Vor einer Woche wurde der «Schiffbergeverein Romanshorn» gegründet. Der Präsident Silvan Paganini trat vor die Medien und verkündete eine «weltweit einzigartige Bergungsmission». Und seit Montag läuft ein Crowdfunding, das darüber entscheidet, ob das Vorhaben tatsächlich gelingt.
Der Ingenieur Silvan Paganini ist der technische Leiter der Schweizerischen Bodensee-Schifffahrt AG (SBS) und eigentlich dafür zuständig, dass die Schiffe auf dem See fahrtüchtig bleiben. Doch als er von einem Jahr seine Stelle antrat und von den Wracks im Bodensee erfuhr, fing er an zu rechnen.
«Die Bergung ist technisch möglich», sagte Paganini 2022 anlässlich des 130. Geburtstages der «Säntis» in einem Beitrag des Regionalfernsehens. Die Bergung sei aber für die SBS, noch immer die rechtmässige Besitzerin der «Säntis», nicht zu bewerkstelligen.
Lange Jahre wusste niemand mehr, wo genau die «Säntis» liegt. Dann wurde das Wrack 2013 bei Vermessungsarbeiten im «Tiefen Schweb» entdeckt, fünf Kilometer vom Romanshorner Ufer entfernt, in 210 Metern Tiefe. Und in überraschend gutem Zustand. Das Süsswasser, die Dunkelheit und die Sauerstoffarmut haben das Wrack hervorragend erhalten. Auf den Aussenseiten ist bis heute der Schriftzug «SAENTIS» zu lesen.
Mit Silvan Paganinis Auftritt im Regionalfernsehen 2022 wurde der Enthusiasmus in der Bevölkerung für die «Säntis» geweckt. Er habe danach oft gehört, dass da doch etwas möglich sein müsse, sagt Paganini. Anfänglich sei er zurückhaltend gewesen. Enthusiasmus alleine reiche nicht für ein solches Projekt.
Doch dann meldeten sich Spezialisten, Geologen, Statiker, Schiffsbauer. Alle waren sie angezogen von der Herausforderung, dieses Wrack zu bergen. Und von der grossartigen Chance, es der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Aus den ersten Berechnungen wurde eine Mission – mit Silvan Paganini und seinem Team.
Ein Wrack statt ein Piratenschiff
Die erste Idee war, dass das Wrack auf einem Kinderspielplatz ausgestellt werden solle, anstelle des vorgesehenen Piratenschiffs. Und so entstand zeitlicher Druck: Bis Februar 2024 muss der Spielplatz stehen, dann läuft die Baubewilligung aus.
Der Verwaltungsrat der SBS gab dem Team um Paganini ein halbes Jahr Zeit, um alle Unbekannten in einer Machbarkeitsstudie auszumerzen. Anhand von historischen Bildern und Bauplänen erstellte das Team ein 3-D-Modell. Damit konnte es das zu hebende Gewicht berechnen. Und abschätzen, wie tief das Schiff im Grund feststeckt.
Bodenproben wurden in die Niederlande geschickt, damit ein Sedimentologe und ein Geologe den Vakuumeffekt berechnen konnten. Denn: Wird das Schiff aus dem Boden gezogen, entsteht ein Unterdruck wie bei einem Saugnapf. Das wirkt wie zusätzliches Gewicht.
Bald wurde klar, dass das Schiff einzig mit Seilen angehoben werden könnte, die unter dem Rumpf durchgezogen würden. Doch wie kommen die Seile durch den Dreck? Paganini konstruierte in nächtelanger Arbeit einen Tauchroboter. Und taufte ihn Rupflin, nach einem Matrosen, der beim Untergang des Schiffs «Jura» 1864 ums Leben kam.
«Wir haben unzählige Nächte an den Zahlen gesessen», sagt Paganini. Und das, obwohl die meisten Mitglieder des Teams Vollzeit arbeiteten. 25 000 Franken wurden allein fürs Material ausgegeben.
Ein Franken für das Dampfschiff
Das Resultat nach sechs Monaten Tüfteln und Berechnen: Die Bergung ist rechtlich und technisch grundsätzlich möglich. Gewisse Unbekannte bleiben. «Wir können strukturelle Schäden im unteren Teil des Schiffes nicht ganz ausschliessen», sagt Paganini. Die Kosten der Bergung schätzen die Spezialisten auf mehrere hunderttausend Franken. Ein zu grosses Risiko und eine zu grosse finanzielle Belastung für die SBS.
In der Zwischenzeit war man von der Idee abgekommen, das Wrack auf dem Kinderspielplatz zu platzieren. Das Schiff sei zu gross und kein geeigneter Ersatz für das Piratenschiff, da es nicht bespielbar sei für die Kinder.
Damit kam ein Szenario zum Tragen, auf das sich Paganini bereits eingestellt hatte. Der Verwaltungsrat der SBS entschied sich, die Bergungsaktion der «Säntis» zwar zu unterstützen, aber sie in die Hände eines Vereins oder einer Stiftung zu geben. Am Freitag dann verkaufte die SBS dem extra gegründeten Verein das Wrack – für einen symbolischen Betrag von einem Franken.
Zwei Pläne, zwei Preise
Am Montag ist mit leichter Verzögerung das Crowdfunding gestartet. «Das Spielfeld ist offen, jetzt entscheidet die Allgemeinheit», sagt Paganini. Darüber, ob das Schiff überhaupt gehoben werden soll. Und mit welcher Methode.
Mit knapp 200 000 Franken könnte der Verein die «rabiatere» Variante finanzieren, um das Schiff aus dem See zu heben. Und zwar mithilfe von Hebesäcken, die wie Ballone unter Wasser funktionieren. «Wenn das Schiff in Schräglage geraten würde, wäre dies mit den Hebesäcken schwer zu kontrollieren», sagt Paganini. Das Risiko von Schäden wäre gross.
Mit dem Höchstbetrag von einer halben Million Franken hingegen könnte der Verein sich Litzenheber leisten. Das Schiff würde über eine hydraulische Hebevorrichtung angehoben und mithilfe einer Motorfähre ans Ufer transportiert.
Sobald das Schiff geborgen würde, müsste es nochmals schnell gehen. «Dann beginnt es sofort zu rosten», sagt Paganini. Auch darauf hat sich der Verein vorbereitet. Knapp 100 000 Franken des Budgets sind für die Konservierungsarbeiten vorgesehen. Der Zersetzungsprozess soll gestoppt werden.

Sollte die «Säntis» jedoch unter Wasser bleiben, drohen ihr andere Gefahren. Die Quagga-Muschel etwa, die sich im Bodensee seit einigen Jahren invasiv vermehrt und erste Wracks in weniger tiefen Gebieten befällt. Und die tauchenden Schatzräuber, die unter Wasser alles mitnehmen, was sich abschrauben lässt.
Die Frist für das Crowdfunding läuft bis am 20. Juli. In den ersten Tagen sind nur wenige tausend Franken zusammengekommen. Paganini bleibt zuversichtlich. Nun, da das Wrack höchstwahrscheinlich auf einen Liegeplatz im Hafen gestellt würde, ist der zeitliche Druck weg. Wenn die Crowdfunding-Aktion gelingt, will der Verein das Schiff schon im Herbst bergen. «Und sonst versuchen wir es vielleicht später nochmals.»
Erschienen in der NZZ am 26. April 2023.